Wie ausgereift ist unser Supply Chain Risikomanagement?
Das Thema Supply Chain Risikomanagement (SCRM) hat nicht zuletzt seit der Ausbreitung der Corona-Pandemie zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dabei stellen sich viele Unternehmen oft die Fragen: „Wie können wir unser SCRM weiter verbessern“ und „Wie gut sind wir mit unserem SCRM eigentlich im Vergleich zu anderen?“ Oft fehlt es hier jedoch an konkreten Verbesserungsvorschlägen und an einer Vergleichsmöglichkeit mit anderen Wettbewerbern zu diesem Thema. Hier kann die Anwendung eines Reifegradmodells helfen.
Aufbau eines Reifegradmodells
Reifegradmodelle sind nützliche Werkzeuge, um sowohl den aktuellen Zustand festzustellen als auch mögliche Verbesserungen zu identifizieren. Dabei werden die Fähigkeiten bewertet, bestimmte Anforderungen zu erfüllen, mit dem Ziel, einen idealen Zustand zu erreichen.7
In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Reifegradmodelle in verschiedensten Disziplinen entwickelt, unter anderem auch für das Supply Chain Risikomanagement.3,4,5,6 Die Modelle unterscheiden in der Regel zwischen drei und sechs verschiedene Stufen der Reife, die erreicht werden können – beginnend beim Anfangsstadium bis hin zur vollkommenen Reife.1,2

Mithilfe vordefinierter Anforderungen, die den einzelnen Reifegradstufen zugeordnet sind, wird der Reifegrad bestimmt. Die Ergebnisse der Reifegradeinschätzungen werden oft graphisch in Form eines Spinnen- oder Balkendiagramms umgesetzt. Somit ist anhand der graphischen Ergebnisdarstellung schnell ersichtlich, wo bereits ein guter Stand erreicht ist bzw. wo noch Verbesserungspotenzial besteht.
Wie können wir unser Supply Chain Risikomanagement verbessern?
Für ein erfolgreiches Supply Chain Risikomanagement ist sowohl die organisatorische Einbindung des SCRM in das Unternehmen als auch der Ablauf des Risikomanagement-Prozesses von entscheidender Bedeutung.
Neben der Frage, wo bzw. wie intensiv das SCRM in die Organisationsstrukturen eingebunden ist, sollte auch ein Blick darauf erfolgen, wer für das Thema und in welchem Umfang verantwortlich ist und welche Hierarchieebenen einbezogen werden sollten. Ist z.B. die Geschäftsführung aktiv in das Thema eingebunden, so werden Investitionen in Maßnahmen zum Risikomanagement ggf. schneller bewilligt.
Neben den organisatorischen Aspekten sollte beim SCRM auch der Ablauf berücksichtigt werden. Hier spielen Transparenz und Visualisierung der Wertschöpfungsprozesse sowie des gesamten Lieferantennetzwerks eine wichtige Rolle. So sollten z.B. umfassende Informationen über die Lieferanten vorliegen, die nicht nur Lieferanten von Produktionsmaterial umfassen, sondern auch Dienstleister.
Zur Risikoidentifikation und -bewertung können sowohl interne als auch externe Daten unter Zuhilfenahme moderner Technologien (z.B. Sensorik, Künstliche Intelligenz) herangezogen werden. Durch die Einbindung von kennzahlenbasierten Frühwarnsystemen können Risiken in Lieferketten frühzeitig vorhergesehen werden. Somit ergibt sich ein verlängerter Zeitraum, um sich auf die Auswirkungen der Störungen (z.B. verspäteter Wareneingang) einstellen zu können.
Beispielhafte Ausprägungen der einzelnen Reifegrade zur Einbindung der Geschäftsführung
- Reifegrad 1: Die Geschäftsführung interessiert sich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben für einzelne Themenbereiche des SCRM. Das Thema SCRM ist bei einzelnen Abteilungsleitungen angesiedelt. Die Geschäftsführung lässt sich in gesetzlich erforderlichem Ausmaß zum SCRM informieren. Die Berührung mit der Geschäftsführung zu diesem Thema ist ansonsten außerordentlich gering (Passivität).
- Reifegrad 2: Das Thema SCRM ist bei mehreren Abteilungsleitungen angesiedelt. Diese setzen sich regelmäßig in einem SCRM-Team zusammen, um sich zu dem Thema auszutauschen. Einzelne Mitglieder der Geschäftsführung zeigen Interesse für das Thema SCRM und fördern einzelne Maßnahmen. Bei SCRM-Treffen nimmt auch gelegentlich die Geschäftsführung teil (Aktivität).
- Reifegrad 3: Das Thema SCRM ist sowohl in den einzelnen Abteilungen als auch bei der Geschäftsführung fest verankert. Diese lässt sich regelmäßig zum Thema SCRM informieren und nimmt an den SCRM-Treffen der Abteilungsleitungen teil. Sie unterstützt entsprechende Maßnahmen in umfassendem Ausmaß. Es liegt ein klares Bekenntnis der Geschäftsführung vor, welches sich durch die Integration des Themas in bestehende Planungs- und Steuerungssysteme äußert sowie in Form von verpflichtenden Richtlinien und angewandten Handbüchern.
- Reifegrad 4: SCRM wird als ein Wertschöpfungselement angesehen. Das Thema SCRM ist sowohl in den einzelnen Abteilungen als auch bei der Geschäftsführung fest verankert. Es ist regelmäßig Bestandteil der verschiedenen Zusammenkünfte (z.B. Planungstreffen, Strategietreffen, etc.). Die gesamte Geschäftsführung unterstützt das SCRM im Unternehmen. Es werden umfangreiche Investitionen im Rahmen des SCRM getätigt (z.B. angewandte SCRM-Software, Schaffen zusätzlicher Mitarbeiterstellen, Inanspruchnahme externer Beratungsdienstleistungen, Zugriff auf externe kostspielige Datenbanken, etc.). Risk-Sharing-Partnern, Supplier-Auswahl und Supplier-Entwicklung werden eine hohe Bedeutung beigemessen.
Beispielhafte Fragen zur Einschätzung des Reifegrads für die Informationslage über Lieferanten
- Existiert eine Auflistung sämtlicher direkt vorgelagerter Lieferanten?
- Sind die Ansprechpartner mit Entscheidungsbefugnis auf Seiten der Lieferanten bekannt?
- Sind die kritischsten Lieferanten bekannt? (Kritische Lieferanten zeichnen sich z.B. durch einen hohen Umsatzanteil aus oder sie liefern Material für eine Vielzahl an Produkten, welches nicht ohne Weiteres ausgetauscht werden kann.)
- Werden regelmäßig Informationen über die Lieferanten eingeholt?
- Werden die Informationen über die Lieferanten regelmäßig mit anderen Abteilungen ausgetauscht? (Wenn z.B. in der Logistik wiederholt schlechte Erfahrungen mit einem Lieferanten gemacht wurden, sollte die Auswahl des Lieferanten im Rahmen zukünftiger Produktentwicklungsprozesse überdacht werden.)
Indem die Unternehmen ein Reifegradmodell anwenden, zeigen die Ergebnisse, wie gut oder schlecht sie im Supply Chain Risikomanagement aufgestellt sind, oder wie sie sich nach Umsetzung entsprechender Maßnahmen im Vergleich zum Vorjahr verbessert haben.

Nachdem die Reifegradstufen für die verschiedenen Bausteine des Supply Chain Risikomanagement festgestellt wurden, können im nächsten Schritt Verbesserungsmaßnahmen vom Unternehmen angestoßen werden, um die nächsthöhere Reifegradstufe zu erreichen.
Hierzu bieten vereinzelte Reifegradmodelle konkrete Handlungsempfehlungen, wie z.B.
- Stellen Sie detaillierte Informationen über die geographische Ansiedlung der Produktionsstätten Ihrer direkten Lieferanten (downstream, tier-1) sowie deren Vorlieferanten (downstream-Betrachtung tier, 1 +2) zusammen.
- Stellen Sie durch eine entsprechende Datenlage sicher, dass Sie mögliche Folgewirkungen einer Lieferkettenunterbrechung seitens der Vorlieferanten (tier 2) für das eigenen Unternehmen abschätzen können.
- Identifizieren Sie mögliche Abhängigkeiten zwischen Ihren vorgelagerten Lieferanten (z.B. unterschiedliche Systemlieferanten greifen auf denselben Vorlieferanten zurück).

Quellen
[1] Becker, J.; Knackstedt, R.; Pöppelbuß, J. (2009): Entwicklung von Reifegradmodellen für das IT-Management – Vorgehensmodell und praktische Anwendung. In: Wirtschaftsinformatik, Vol. 51, No. 3, pp. 249–260.
[2] Bensiek, T. (2013): Systematik zur reifegradbasierten Leistungsbewertung und -steigerung von Geschäftsprozessen im Mittelstand. Dissertation der Universität Paderborn, pp. 22.
[3] Böger, M. (2010): Gestaltungsansätze und Determinanten des Supply Chain Risk Managements, Eul Verlag: Lohmar.
[4] Gupta, S.; Goh, M.; De-Souza, R.; Meng, F.; Garrg, M. (2014): Supply Chain Risk Management: A Conceptual Framework and Empirical Validation. In: International Journal of Information Systems and Supply Chain Management. Vol. 7, No. 2, pp. 80–10.
[5] Rice Jr., J. B.; Tenney, W. (2007): How Risk Management Can Secure Your Business Future. Supply Chain Strategy: A newsletter from the MIT Center for Transformation & Logistics, Vol. 3, No. 5, pp. 1–4.
[6] Schlegel, G. L; Trent, R. J. (2015): Supply Chain Risk Management. An Emerging Discipline, CRC Press: Boca Raton.
[7] Schröder, M. (2019). Strukturierte Verbesserung des Supply Chain Risikomanagements, Springer Gabler: Wiesbaden, p. 36.
[8] Schröder, M. (2019). Strukturierte Verbesserung des Supply Chain Risikomanagements, Springer Gabler: Wiesbaden, p. 158.
Fazit
Ein strukturiertes Supply Chain Risikomanagement ist heute unverzichtbar – gerade für kleine und mittlere Unternehmen, die zunehmend komplexen und volatilen Lieferketten gegenüberstehen. Ziel sollte es sein, das SCRM im Unternehmen kontinuierlich zu verbessern, um auf mögliche Störungen und Risken gut vorbereitet zu sein. Reifegradmodelle bieten dabei eine praxisnahe Möglichkeit, den eigenen Stand systematisch zu bewerten, Verbesserungspotenziale aufzudecken und gezielte Maßnahmen zur Weiterentwicklung einzuleiten. Insbesondere die Einbindung der Geschäftsführung sowie die Transparenz über Lieferantenstrukturen sind zentrale Hebel für ein wirksames SCRM. Wer seinen Reifegrad kennt, kann Risiken nicht nur besser managen, sondern seine Resilienz gezielt stärken.